Mit '"Lockdown der Dinge – Fotografische Positionen zum Stillleben" entstand ein studentisches Projekt während des Shutdown 2020. Die Idee war es ein Stillleben mit einer Kurzgeschichte zu entwickeln.

Wirkungsgrad ​​​​​​​
Wir sitzen in einem Raum. Die Luft ist abgestanden und bitter. Im trüben Licht lasse ich meine Augen im Uhrzeigersinn wandern. Kartons, Kisten und Taschen stehen gestapelt an der Wand und türmen sich in Richtung Decke. Ein alter Sekretär, darauf zusammengelegte Kleidungsstücke und allerlei Krimskrams, der zu einem Stillleben verschmolzen ist, steht zweckentfremdet und orientierungslos an der Wand. Ein Bügelbrett. Ein leerer Wäscheständer. Wieder Kisten. Ein Gasofen, der leise brummt. Dann ein heruntergekommenes Sofa, auf dem sie sitzt. Teilnahmslos, starr, wie ein weiterer Gegenstand im Raum; eine Requisite. Rechts neben ihr steht ein kleiner Hocker, darauf ein knallrotes Kinderradio – es ist eines dieser Radios, die ein integriertes Mikrofon haben, mit dem Stimme, Geräusche, das Leben aufgenommen werden konnte. Jetzt ist es stumm. Links neben ihr steht ein kleiner Beistelltisch. Darauf ein Teller, auf dem sich noch ein paar Krümel der letzten Mahlzeit tummeln. Ein Buttermesser. Ein winziges Marmeladeglas und andere Dinge. Irgendwelche Dinge, die sie sorgfältig um sich herum drapiert hat. Dinge, die eine Ordnung in der Unordnung zu erzwingen scheinen. Alles hat seinen Platz und
dennoch wirkt alles improvisiert und verloren – wie sie. Sie sitzt in der Mitte des Sofas; ich sitze ihr schräg gegenüber in einem unbequemen Korbstuhl. Mein Blick streift die Deckenlampe, die mit einem Tuch verhangen beinahe den Boden berührt, als hätte sie keine Kraft mehr sich zu halten. Die Konturen ihres Gesichts: Ihre Augen sind rot und geschwollen. Ihre Lippen sind fest aufeinander gepresst. Sie trägt eine rosafarbene Wollmütze und ertrinkt in ihrer Strickjacke. Die Hände unruhig. Obwohl es Tag ist, fällt nur spärlich Licht in den Raum. Einzelne Lichtpunkte dringen durch ein schweres Tuch, das sporadisch befestigt wurde. Dekoration? Das Licht ist ausgesperrt. Ich atme die schwere Luft. Folge ihrem Blick, der geradeaus gerichtet, durch die mit Raufaser tapezierte Wand in die Ferne schweift. Ich sehe nur die Wand. Was sieht sie? Was fesselt ihren Blick, frage ich mich. Was ihre Gedanken? Ihr Körper wippt im Takt eines Metronoms, das es nicht gibt, kaum sichtbar aber in müder Beständigkeit. Hört sie mich? Ich stelle die Frage nicht. Kälte klirrt, kriecht durch den Raum, weidet sich an der monotonen Gleichförmigkeit und dehnt sich aus – sie umschlingt meine Fesseln, schlängelt sich um meine Waden, umkreist das Stuhlbein wie eine Schlingpflanze und fixiert mich fest auf meinem Stuhl. Kälte schafft Distanz. Nähe entsteht durch Wärme. Ich friere. Ich denke an Sartre – die Hölle, das sind die anderen. Ihr Blick ist leer, ihr Körper eine Hülle. In welcher Hölle lebt sie. Ich schaue mich in dem zweckmäßig eingerichteten Raum um. Indizien? Ich achte auf Details und suche eine Antwort auf die Frage, die ich nicht stelle. Bin ich ihr Inferno? Leben – Überleben – Existieren. Scheinbar drei unterschiedliche Nomen die aber ihre Gemeinsamkeit im Da-Sein finden. „Lebst du?“, stelle ich meine Frage im geheimen und führe meinen inszenierten Dialog fort. „Natürlich“, antwortet sie, mit leiser Stimme. „Nein, lebst du richtig?“, stelle ich meine Frage erneut. Sie starrt weiter an einen Punkt an der Wand. „Wenn man das Leben nennt“, presst sie gequält hervor. Sie blickt in meine Richtung, aber schaut durch mich hindurch, als spräche sie mit sich selbst. „Ich überlebe. Irgendwie.“ Sie verzieht das Gesicht zu einer diabolischen Fratze. „Sieh dich doch um, bedeutet das hier Leben?“ Ich antworte nicht und sage stattdessen: „Existierst du?“. „Was für eine dumme Frage“, sagt sie schnippisch. „Natürlich, ich bin doch da.“ Der unausgesprochene Dialog kreiert ein klares Bild. Ja, sie lebt. Ja, sie überlebt. Primär aber existiert sie. Sie ist da, sitzt in diesem Raum, ohne anwesend zu sein. Ihre Gedanken kreisen. Ich kann sie hören. Gedanken, die immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren und erneut gedacht werden – und so weiter und so weiter. Sie rollen unaufhaltsam. Sie kann den Kreislauf nicht durchbrechen. Kann nicht raus. Nicht aus diesem Raum. Nicht aus ihrer Haut. Nicht aus sich. Sie ist eine Gefangene ihrer selbst. Gefangene ihrer Gedanken. Plötzlich richtet sie ihre Kinderaugen in meine Richtung. Augen, die ihre Neugierde verloren haben. Kein Funkeln. Kein Glänzen. Mutlose Augen, die schauen, weil das eben ihre Funktion ist. Nicht, weil sie will. Sie will nichts sehen. Ihr Blick richtet sich nach innen. Ihr Zeigefinder kratzt schon seit einer kleinen Ewigkeit an einem unsichtbaren Fleck auf dem Sofaüberwurf. Monoton. Kreisend. Wie ihre Gedanken. Meine Lippen bewegen sich. Reden unaufhörlich. Sie schweigt. Beruhigende Worte verlieren sich in dämmrig dumpfem Licht. Ich höre sie nicht. Sie verlieren sich. Verwandeln sich zu leeren Phrasen und zerfallen. Meine Worte sind eine Wiederholung von einer Wiederholung. Ich bin eine lebende Tonbandaufnahme, die auf Repeat gestellt ist. Ich bewege mich in ihrer Welt. Folge ihren Kreisen. Kennt sie die Welt da draußen? Die andere? Meine Gedanken vibrieren in meinem Kopf. Die Zeit scheint ihre Bedeutung verloren zu haben. Eine Stunde füllt die Leere nicht. Ich schließe die Augen und höre mich sprechen, wie ein Fön in einem Kühlschrank.
Hier lese ich dir einen kurzen Ausschnitt meine Kurzgeschichte vor (ab Min. 1:49) vor. 
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The project "Lockdown der Dinge – Fotografische Positionen zum Stillleben" was created during the Shutdown 2020. The idea was to develop a still Read More

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